Ist es nicht seltsam, dass laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts mittlerweile jedes fünfte Kind in Deutschland als verhaltensauffällig gilt? Eltern werden heute beständig mit Untergangsszenarien konfrontiert, die durch vermeintlich logische, tatsächlich aber haarsträubende Kausalketten hergeleitet werden. Von einem Kind, das sich protestierend auf den Boden wirft, weil es nicht einsehen will, das seine Mutter ihm den Mund abwischt, ist es – glaubt man diesen Experten – nicht weit bis zu einem jugendlichen Arbeitslosen, der nicht fähig ist, eine Ausbildung einzugehen und zu beenden.
Dabei ist die Vielfalt dessen, was innerhalb einer gesunden, kindgerechten Entwicklung geschehen kann, ungemein groß und lässt viel Platz für Interpretation.
Heute jedoch scheinen Kinder sofort mit Diagnosen belegt und bei jeder kleinsten Abweichung als „verhaltensauffällig“ eingestuft zu werden. Ganz so, als ob keine Zweifel bestünden, was als
„normal“, „nicht normal“, als abweichendes Verhalten oder gar als krankhaft zu gelten habe! Pauschalierungen und Vereinfachungen von komplexen Fragen sind weder für Kinder noch für Eltern
hilfreich und werden der diffizilen Materie nicht gerecht. Sie tragen vielmehr zur Unsicherheit von Eltern bei und lösen Angst und Sorge aus.
Nicht seten werden lediglich Symptome behandelt. Die Kinder werden als auffällige, schwierige Kinder eingeordnet und ausschließlich mit ihren Defiziten gesehen, aber nicht mit ihren Nöten verstanden. Dies führt zu noch größerer Unsicherheit bei Kindern und Eltern.
Wir können das Verhalten von Kindern in Beziehung zu den Menschen und die Umwelt setzen, die das Kind umgibt. Oft macht das Verhalten dann auf einmal Sinn, es wird zumindest nachvollziehbarer und gibt Aufschluss darüber, was ein Kind denkt und wie es sich fühlt. Wir können etwas tun, wir können reflektieren und uns fragen: Wie ist die Gesamtsituation und welchen Anteil tragen vielleicht wir selbst daran, dass ein Kind sich so oder so verhält? Oft wird das Verhalten der Kinder von Anderen problematisiert und pathologisiert. Es ist bequem und entlastend für die Gesellschaft zu sagen: Das ist nicht normal! Was wir damit eigentlich meinen: Das Kind ist nicht normal – es verhält sich nicht normgerecht! Es fällt auf und raus aus unserem Raster für das, was wir als „normal“ empfinden.
Wir Eltern jedoch kennen unsere Kinder ambesten. Wir sind die Experten für unsere eigenen Kinder und es kann hilfreich und konstruktiv sein, zunächst unsere eigenen Denk- und Verhaltensmuster aufzudecken und zu verstehen, welche Wirkung sie auf uns und unsere Kinder haben. Denn unser Umgang mit einem Kind und auch die von uns bereitgestellte Umwelt haben immer Einfluss auf das Kind und seine Entwicklung. Es verhält sich immer der Umwelt entsprechend, deshalb können wir Kinder und ihr Verhalten nicht ohne den Gesamtzusammenhang betrachten. Hierbei kann ein Blick von außen hilfreich und zielführend sein, das Kind und sein Verhalten zu verstehen und gemeinsam neue Lösungswege zu finden.